I. Präambel
In einer psychoanalytischen Behandlung werden oft sehr starke und teilweise im Unbewussten wurzelnde Gefühle und Übertragungen aktiviert und es kann ein Machtgefälle zwischen PsychoanalytikerInnen und PatientInnen entstehen. Das Ignorieren, Verharmlosen oder Missbrauchen dieser Situation kann zum Entgleisen der Behandlung sowie zu erheblichen Schädigungen sowohl von PatientInnen als auch von PsychoanalytikerInnen führen. Daher ist es für die Ausübung des Berufes des/der PsychoanalytikerIn unverzichtbar, sich ethisch korrekt zu verhalten.
Es wird erwartet, dass PsychoanalytikerInnen sich in ihrer gesamten professionellen Tätigkeit aufrichtig und integer verhalten; sie sind verpflichtet, den Ethikkodex der WPV zu kennen und einzuhalten. Er repräsentiert humanitäre Werte, psychoanalytische Prinzipien und professionelle Verpflichtungen gegenüber PatientInnen, KollegInnen und der Öffentlichkeit. Er ist allgemein verpflichtend für alle PsychoanalytikerInnen der WPV und zwar in jeder Situation, in der diese klinisch arbeiten (z.B. Psychoanalyse, Psychotherapie, Beratung) oder forschen oder Äußerungen machen und Handlungen setzen, die sich auf diese Arbeiten beziehen. Ein Verstoß dagegen ist sehr ernst zu nehmen und kann schwerwiegende Folgen haben.
Wenn in diesem Kodex von PsychoanalytikerInnen die Rede ist, sind damit nicht nur alle ordentlichen Mitglieder der WPV, sondern auch alle in Ausbildung befindlichen KandidatInnen (provisorischen Mitglieder) gemeint. Weiters bezieht sich dieser Kodex nicht nur auf das Verhältnis zwischen PsychoanalytikerInnen und PatientInnen, sondern auch auf das Verhältnis zwischen LehranalytikerInnen und LehranalysandInnen.
Der vorliegende Ethikkodex der WPV besteht aus Präambel und Kodex in engerem Sinne. Zusätzlich gibt es eine Geschäftsordnung des Ethikausschusses, in der vor allem verfahrenstechnische Fragen geregelt sind. Der Kodex stellt das ethische Grundgerüst der WPV dar. Er fußt auf den ethischen Grundsätzen der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), die die Minimalstandards beinhalten; deren englische Fassung ist im Falle von Unklarheiten bezüglich Formulierungen oder Bedeutungen oder in einem allfälligen Gerichtsverfahren maßgeblich.
Der Kodex soll als Leitfaden dienen, der die wesentlichen Prinzipien beinhaltet und in schwierigen Situationen eine Stütze bietet. Er soll auch Anlass geben, diese Prinzipien unter KollegInnen zu diskutieren. Kein Kodex - auch nicht der vorliegende - kann erschöpfende Antworten auf alle bei der Ausübung des Berufs des/der PsychoanalytikerIn entstehenden ethischen Fragen geben. Dieser Ethikkodex soll daher immer wieder aktualisiert und nach Bedarf und aufgrund neuer Erfahrung weiterentwickelt werden.
II. KODEX
1. PsychoanalytikerInnen dürfen nicht an der Verletzung der grundlegenden Menschenrechte eines Einzelnen gemäß der Definition der UN- Menschenrechtserklärung und der IPV-Richtlinie zur Nichtdiskriminierung teilnehmen oder sie ermöglichen.
2. PsychoanalytikerInnen haben sich jederzeit so zu verhalten, wie es im besten PatientInnen-Interesse angezeigt ist. Jegliche Art der Ausbeutung von PatientInnen bzw. von Informationen über sie oder von ihnen ist untersagt.
3. PsychoanalytikerInnen haben Statuten, Geschäftsordnungen und Bestimmungen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung zu akzeptieren; sie haben jedes Verhalten zu vermeiden, welches das Ansehen der WPV, der IPA oder der Psychoanalyse schädigt.
4. Sobald zwischen dem/der PsychoanalytikerIn und einer Person (PatientIn, KlientIn, ProbandIn) eine professionelle Beziehung hergestellt wurde, ist der/die PsychoanalytikerIn an diesen Ethikkodex gebunden.
5. Es obliegt den PsychoanalytikerInnen, zu Beginn der Behandlung den PatientInnen - und bei der Therapie eines Kindes oder Adoleszenten den Eltern/Erziehungsberechtigten - die Grundlagen, die Rahmenbedingungen und die praktischen Erfordernisse so klar und verständlich darzulegen, dass alle Beteiligten in die Behandlung einwilligen können.
6. PsychoanalytikerInnen müssen alle angebrachte Zurückhaltung in körperlicher, verbaler und sozialer Hinsicht gegenüber ihren PatientInnen ausüben. Weder während der Behandlung noch danach dürfen PsychoanalytikerInnen mit ihren PatientInnen eine sexuelle Beziehung oder eine andere Art von privater Beziehung eingehen oder ihr/ihm vorschlagen. Es ist unethisch, eine Person in Behandlung zu nehmen, mit der/die PsychoanalytikerIn in der Vergangenheit eine solche Beziehung gehabt hat.
7. Während der Behandlung und für eine angemessene Zeit nach der Behandlung dürfen PsychoanalytikerInnen mit Familienmitgliedern ihrer PatientInnen und ihnen nahestehenden Personen keine sexuelle oder andere nahe Beziehung eingehen. Es ist unethisch, eine Person in Behandlung zu nehmen, mit dessen Angehörigen oder nahestehenden Personen der/die PsychoanalytikerIn in der Vergangenheit eine solche Beziehung gehabt hat.
8. Alle Honorare und andere finanzielle Vereinbarungen müssen dem/der PatientIn (bzw. den Eltern/Erziehungsberechtigten, siehe Pkt.5) vollständig aufgezeigt werden und es muss diesen Vereinbarungen zugestimmt werden, bevor die Behandlung beginnt. Für den Fall, dass eine Erhöhung des vereinbarten Honorars stattfindet, ist eine Zustimmung erforderlich, bevor diese in Kraft tritt. Mit Ausnahme des vereinbarten Honorars dürfen keine finanziellen oder andere geschäftlichen Transaktionen mit PatientInnen oder ihren Angehörigen stattfinden.
9. Die psychoanalytische Behandlung eines/einer PatientIn bei einem/einer PsychoanalytikerIn erfolgt – abgesehen von Ausnahmen (z.B. Behandlungen im Rahmen der Justiz) – freiwillig; der/die PatientIn hat daher die Möglichkeit die Behandlung abzubrechen oder anderweitig Behandlung und Rat zu suchen.
10. Die Beendigung einer psychoanalytischen Behandlung sollte in beiderseitigem Einvernehmen erfolgen. Beschließt der/die PsychoanalytikerIn die Behandlung eines/einer PatientIn zu beenden, so sollte er/sie Zustand und Behandlungsnotwendigkeiten der/des PatientIn berücksichtigen und etwaigen Wünschen des/der PatientIn um Informationen über alternative Behandlungsmöglichkeiten Folge leisten.
11. PsychoanalytikerInnen müssen die Vertraulichkeit aller Informationen, die PatientInnen betreffen, in Falldokumentationen, in wissenschaftlichen Schriften und Vorträgen oder in jeder Art von anderen Kommunikationen berücksichtigen. Die Anonymität der PatientInnen darf nur auf Grund zwingender therapeutischer Notwendigkeit aufgehoben werden. Mitteilungen müssen immer von Achtung gegenüber den PatientInnen zeugen. Die Anonymität der PatientInnen muss auch nach ihrem Tod sowie nach dem Tod des/der PsychoanalytikerIn gesichert sein.
12. PsychoanalytikerInnen, die klinisches Material publizieren oder in welcher Form oder in welchem Zusammenhang auch immer präsentieren (z.B. Vortrag, Supervision, Kurs - mündlich, schriftlich oder audiovisuell), müssen alles unternehmen, um die Anonymität von PatientInnen zu gewährleisten und – wenn klinisch angebracht – ihre Einwilligung einholen. PatientInnen dürfen nicht ohne ihre Einwilligung audio-visuell aufgezeichnet werden. Falls PatientInnen Gegenstand von Forschung werden sollen, müssen das Wesen, der Grund und die Bedingungen den PatientInnen voll dargelegt und ihre Einwilligung eingeholt werden.
13. PsychoanalytikerInnen sollen alle angemessenen Schritte unternehmen um sicher zu stellen, dass Personen, die unter ihrer Supervision oder Anleitung arbeiten, diesen Kodex verstehen und einhalten.
14. PsychoanalytikerInnen, die in einem institutionellen oder anderen Setting als Team arbeiten oder an Gruppen-Supervisionen teilnehmen, sollen alle angemessenen Schritte unternehmen, um sicher zu stellen, dass alle MitarbeiterInnen, Teammitglieder und KollegInnen diesen Kodex verstehen und einhalten. Es ist nicht unethisch, im Rahmen solcher Aktivitäten notwendige Teile vertraulicher Informationen von PatientInnen im Team bzw. in der Gruppe weiter zu geben, vorausgesetzt die PatientInnen sind darüber informiert und jedes Teammitglied versteht, dass das Team insgesamt an die Schweigepflicht nach außen gebunden ist.
15. PsychoanalytikerInnen haben sich gegenüber Mitgliedern der WPV, gegenüber anderen Organisationen sowie gegenüber der Öffentlichkeit allgemein ehrenhaft und rücksichtsvoll zu verhalten. Mitteilungen an und über KollegInnen sind mit Respekt vorzunehmen. Es steht natürlich frei, von KollegInnen vertretene Aspekte der psychoanalytischen Theorie, Methode oder Praxis zu kritisieren; dies soll aber stets mit Wahrhaftigkeit, wissenschaftlicher Sorgfalt und kollegialem Respekt geschehen. Eigene Meinung und Tatsachen sind deutlich voneinander zu unterscheiden.
16. PsychoanalytikerInnen sind verpflichtet, ihre professionelle Kompetenz aufrecht zu erhalten und notwendige Supervision und Fortbildung in Anspruch zu nehmen und den Kontakt mit BerufskollegInnen in angemessenem Maße zu pflegen. Dies soll sicherstellen, dass ein ausreichender Standard beruflicher Praxis und aktuellen Wissens zu relevanten beruflichen und wissenschaftlichen Entwicklungen aufrechterhalten wird.
17. PsychoanalytikerInnen sollen ihre Praxis innerhalb der Grenzen ihrer Kompetenz halten und professionelle Konsultation oder Supervision in jeder Situation, die eventuell diese Grenzen überschreitet, suchen. Dabei sollten sie beachten, dass diejenigen KonsulentInnen und SupervisorInnen, an die sie sich wenden, verstehen und einwilligen, dass PsychoanalytikerInnen an diesen Ethikkodex gebunden sind.
18. PsychoanalytikerInnen dürfen ihren Beruf nicht ausüben, wenn sie aufgrund psychischer oder physischer Störung, altersbedingter Beeinträchtigung oder durch die Einnahme von Medikamenten oder Drogen nicht in der Lage sind, Sorgfalt und Urteilsvermögen angemessen aufzubringen. PsychoanalytikerInnen sind dazu verpflichtet, von einem/einer erfahrenen KollegIn Rat einzuholen, falls sie Zweifel an ihrer eigenen Fähigkeit zu praktizieren haben. Weiters sind PsychoanalytikerInnen dazu verpflichtet auch KollegInnen zu informieren und diesen beizustehen, falls deren Fähigkeit, ihre beruflichen Verpflichtungen zu erfüllen, beeinträchtigt scheint. Für den Fall, dass erhebliche Zweifel an der Fähigkeit eines/einer psychoanalytischen KollegIn bestehen, welche dieser/diese nicht bereit ist aufzunehmen, sind PsychoanalytikerInnen verpflichtet den Ethikausschuss darüber zu informieren.
19. PsychoanalytikerInnen sind dazu verpflichtet, den Ethikausschuss darüber zu informieren, falls ihnen Beweise vorliegen, dass ein/e andere/r PsychoanalytikerIn sich auf eine Art und Weise verhält, die im Widerspruch zum Ethikkodex steht.
20. Falls gegen PsychoanalytikerInnen ein strafrechtliches Verfahren oder ein Gerichtsverfahren, das in Verbindung mit der einschlägigen beruflichen Tätigkeit steht, eröffnet wird, sie in einem Verfahren vor irgendeinem Gericht schuldig gesprochen werden oder in ein Verfahren vor irgendeiner professionellen Körperschaft involviert sind und durch diese zur Rechenschaft gezogen werden, müssen PsychoanalytikerInnen dies dem/der LeiterIn des Ethikausschusses mitteilen.
21. Wenn ein ordentliches oder provisorisches Mitglied, ein affiliiertes Mitglied oder ein Ehrenmitglied aus der WPV austritt, bzw. die Ausbildung abbricht, während im Ethikausschuss Beschwerden gegen diese Person vorliegen oder Ermittlungen über ihr Verhalten anhängig sind, so ist dieses Verfahren dennoch bis zu seinem ordnungsgemäßen Abschluss fortzuführen.
22. PsychoanalytikerInnen müssen sich bei der Untersuchung einer Ethikbeschwerde kooperativ verhalten und dürfen nichts unternehmen, die Untersuchung zu behindern. Dies nicht zu tun, kann selbst einen Verstoß gegen den Ethikkodex darstellen.
23. PsychoanalytikerInnen sind verpflichtet unter Berücksichtigung der beruflichen Verschwiegenheitspflicht Vorkehrungen zu treffen, dass im Falle Ihres Ablebens oder einer sonstigen Nicht-Verfügbarkeit die PatientInnen davon informiert werden.
24. Die Bestimmungen des Ethikkodex gelten sinngemäß auch für affiliierte und Ehrenmitglieder.
25. Abschließend ist noch zu beachten, dass Ethik und Gesetz trotz ihrer weitgehenden Übereinstimmung nicht dasselbe sind. Daher kann es Situationen geben, in denen es der/dem einzelnen PsychoanalytikerIn geraten ist, sich an den Ethikausschuss zu wenden und zusätzlich eventuell eine/n RechtsanwältIn zu konsultieren; aber letztendlich muss sie/er selbst entscheiden, welchen Weg sie/er – nach reiflicher Überlegung aller therapeutischen, ethischen und rechtlichen Konsequenzen – wählt. Der Ethikausschuss ist in solchen Fällen verpflichtet, die Rechtslage mit zu bedenken.