In Memoriam

1938 - 1945

Wiener Psychoanalytischen Vereinigung

Mitglieder 1938
Nikola Sugar (1897-1945)
Rosa Walk (1893-1942)

Mitglieder vor 1938
Alfred Bass (1867-194.)
Adolf Deutsch (1867-1943)
Margarethe Hilferding (1871-1942)
Salomea Kempner (1880-194.)
Karl Landauer (1887-1945)
David Ernst Oppenheim (1881-1943)
Isidor Sadger (1867-1942)
Sabina Spielrein (1885-1942)

Psychologische Mittwochgesellschaft
Alfred Meisl (1868-1943)

Arbeitsgruppe Aichhorn nach 1938
Karl Motesiczky (1904-1943)

Sie wurden ermordet,
in den Tod getrieben,
starben im Lager.

In Memoriam

Mit großer Trauer gedenken wir der Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, der Mittwochgesellschaft und der Arbeitsgruppe um August Aichhorn, die 1938 bis 1945 vor allem wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurden, ermordet wurden, in den Tod getrieben wurden, im Internierungslager starben.
Wir wollen sie nicht vergessen.

Von Wien nahm die Psychoanalyse ihren Ausgang, das danken wir Sigmund Freud und in späterer Folge seinem Kreis, der sich schließlich 1908 als Wiener Psychoanalytische Vereinigung formierte. Wien war mit Freud Zentrum der Psychoanalyse und ihrer Anwendungen.
Dreißig Jahre später gelangte das nationalsozialistische Regime in Wien an die Macht. Sein Terror richtete sich sogleich gegen die jüdischen Mitglieder der Vereinigung und die psychoanalytischen Einrichtungen, Lehrinstitut, Ambulatorium und der Internationale Psychoanalytische Verlag, wurden aufgelöst.
In der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft waren jüdische Mitglieder schon seit 1933 der Verfolgung ausgesetzt, das traf auch jene, die in den Zwanzigerjahren von Wien nach Deutschland gingen. Einige kamen daraufhin kurz wieder nach Wien zurück, emigrierten in die USA oder ließen sich dann andernorts in Europa nieder, von wo sie oft wenig später neuerlich fliehen mussten. Der nach Bürgerkrieg und Ausschaltung des Parlaments seit 1934 in Österreich herrschende Austrofaschismus veranlasste auch in Wien die ersten zur Emigration und die in Wien Ausharrenden zum Stillhalten.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1938 bedeutete das Ende für die Wiener Psychoanalytische Vereinigung. Am 13. März 1938 fand eine Vorstandssitzung statt, zwei Beschlüsse wurden gefasst: Alle Mitglieder sollten sobald wie möglich aus dem Land fliehen und der Sitz der Vereinigung sei dorthin zu verlegen, wo Freud sich niederlassen würde. So ist es auch geschehen. Nur drei Mitglieder sind 1938 in Wien zurückgeblieben: August Aichhorn, Richard Nepallek und Alfred Winterstein.
Viele Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung – auch der zweiundachtzigjährige Sigmund Freud – wurden verfolgt, die meisten von ihnen konnten sich in die Emigration retten.
Die Opfer, die interniert in Lagern starben, in den Tod getrieben und ermordet wurden, waren alle jüdischer Herkunft. Wir sind heute zusammengekommen, um ihrer zu gedenken.

Nicht zuletzt der biografischen Suche von Elke Mühlleitner ist es zu danken, dass wir auch über das Leben und Schicksal jener Mitglieder der Vereinigung bis 1938 etwas wissen, über die keine Biografien vorliegen. Die folgenden biografischen Daten stützen sich weitgehend auf ihre Forschungsergebnisse.

Eine Lesart der Geschichte besagt, dass, bis auf die drei in Wien verbliebenen, allen 1938 in Wien lebenden Vereinigungsmitgliedern die Flucht gelang. Dies galt zunächst auch für Rosa Walk.
Rosa Walk
(geb. Cilcer, Dr. med.)
30.4.1893 Marmaroziget, Ungarn
1942 (Paris?)
WPV 1933–1938
Rosa Walk wurde am 30.4.1893 in Marmaroziget, Ungarn geboren. Sie besuchte das Mädchengymnasium in Budapest (4. Bezirk) und machte im Dezember 1919 die Reifeprüfung. Anschließend studierte sie in Frankfurt am Main Medizin. 1924 wechselte sie an die Medizinische Universität Wien und promovierte dort im Juli 1928. Anfang 1928 bewarb sie sich am Lehrinstitut der WPV um eine Gratisanalyse, was zunächst abgelehnt wurde. Am 5.11.1927 heiratete sie den Wiener Kaufmann und Privatbeamten Anton Johann Walk in der evangelischen Pfarre in Favoriten und konvertierte zum evangelischen Glauben. Später trennte sie sich aber wieder von ihrem Mann. 1933 wurde Johann Walk für tot erklärt, verschollen in Shanghai.
Ihre Lehranalyse machte sie bei Ruth Mack-Brunswick und Edward Bibring, ihre Kontrolle wahrscheinlich bei August Aichhorn. Im Dezember 1933 wurde sie Mitglied der WPV, 1934 eröffnete sie im 4. Bezirk in Wien eine Praxis.
1938 musste sie aus Wien fliehen und emigrierte nach Frankreich.
Warburg (1938–1948) berichtete: “In 1940 the Emergency Committee secured affidavits for Dr. Walk and made efforts to assist her to emigrate from Paris, there she had been living since 1938. She then went to Southern France, returned to Paris, and then back to South. In 1942 the emergency committee was informed, that Dr. Walk had been apprehended and sent to Germany. No word has been received from her since.“
Es gibt noch einen anderen Bericht über ihr Schicksal.
Reichmayr schreibt: „Sie wurde in Frankreich von der Gestapo verhaftet und kam durch einen Sprung aus dem Fenster ums Leben.“

Auch Nicola Sugar war 1938 Mitglied der Vereinigung, wenngleich er nur von 1925 bis 1927 in Wien war und 1938 in Belgrad lebte.
Nicola Sugar
25.8.1897 in Subotic, Voivodina
15.5.1945 Ghetto Theresienstadt
WPV 1925–1938
Nicola Sugar wurde am 25.8.1897 in Subotic, Voivodina als Sohn von Kaufleuten geboren, studierte – da er wegen des Numerus clausus für jüdische Studenten in Budapest nicht zugelassen war, in Prag Medizin. 1924–25 machte er in Berlin eine Analyse bei Felix Böhm, ging danach Wien und wurde noch 1925 Mitglieder der Wiener Vereinigung und übersiedelte 1927 nach Subotica, wo er als Psychoanalytiker praktizierte. Er war einer der Pioniere der Psychoanalyse in Jugoslawien. 1936 wurde er Lehranalytiker und ein Jahr später ging er nach Belgrad, um dort mit Stjepan Betlheim eine psychoanalytische Gruppe zu gründen. Die Belgrader Arbeitsgemeinschaft traf sich zuerst an der Philosophischen Fakultät der Universität und später, nachdem ihr dies verboten wurde, privat bei Sugar. Er ging nach dem Bombardement Belgrads 1941 als Lehranalytiker wieder zurück nach Subotica, das unter ungarischer Besatzung stand und von wo er 1944 zuerst in ein österreichisches Arbeitslager, dann nach Bergen-Belsen und anschließend ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurde. Das offizielle Todesdatum wurde mit 15. Mai 1945 angegeben.

Zu den Ermordeten zählen auch Mitglieder, die aus der Vereinigung schon Jahre früher ausgeschieden waren oder ihr zwar formal angehörten, aber anderswo als Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker lebten und wirkten:

Alfred Bass
1.8.1867 Linz
194?. Ghetto Łódź (?)
WPV (Mittwochgesellschaft) 1906–1909
Alfred Bass wurde am 1.8.1867 in Linz als Sohn eines Lehrers geboren. Er promovierte 1892 in Wien in Medizin, engagierte sich für eine soziale Medizin und praktizierte im 6. Bezirk in Wien, wo er bis 1940 gemeldet blieb. Schon vor 1906 stieß er zur Mittwochgesellschaft, hielt am 3.3.1909 einen Vortrag zum Thema „Wort und Gedanke“ und am 3.11.1909 wurde sein Austritt bekannt gegeben.
Er gehörte zu den Mitarbeitern von Doz. Teleky, der sich in Sozialhygiene habilitiert hatte, und engagierte sich als praktischer Arzt im Rahmen der Gesundheitspolitik von Stadtrat Tandler als Schularzt. Bei einem Gesuch um städtische Räume für das Wiener Psychoanalytische Ambulatorium im Jänner 1927 intervenierte Alfred Bass bei Stadtrat Tandler und Eduard Hitschmann vermerkte: „Um diese Zeit hatte Friedjung mit Seitz, Hitschmann mit Bez.Vorstand IX. Bez. Schober, Dr. Bass mit Tandler gesprochen und wurde an Dr. Ellenbogen ein gleichsinniger Brief geschrieben.“ Das Gesuch blieb erfolglos.
Von 30.4.1940 bis 29.10.1941 war Alfred Bass in Wien 6, Köstlergasse 10 gemeldet.
Am 28.10.1942 wurde er in das Ghetto Łódź (Litzmannstadt) deportiert und dort oder in einem anderen Vernichtungslager ermordet.

Adolf Deutsch
3.12.1867 Czernowitz, Bukowina
22.1.1943 Ghetto Theresienstadt
WPV (Mittwochgesellschaft) 1906–1909
Adolf Deutsch wurde am 3.12.1867 als Sohn eines Kaufmannes in Czernowitz, Bukowina geboren. Er beendet sein Medizinstudium in Wien 1898 und ließ sich 1903 als praktischer Arzt in Wien 1 als Facharzt für physikalische Medizin nieder. Während des Sommers arbeitete als Kurarzt in Bad Gastein und hatte seine Praxis von 1917 bis 1940 in Wien 9, Wasagasse 8. Er zählte 1905 zu den Hörern Sigmund Freuds an der Universität, nahm an den Sitzungen der Mittwochgesellschaft schon vor 1906 teil und hielt am 8. Mai 1907 einen Vortrag über den Dichter Walter Calé. 1909 war er nur mehr zweimal bei den Sitzungen anwesend. 1917 betonte er in seiner Broschüre über „Ärztliche Berufsberatung Kriegsbeschädigter im Rahmen der Arbeitsvermittlung“ das psychologische Moment bei der Berufsberatung.
Seine Frau Luise starb im Juni 1938. Bis 31. Oktober 1941 blieb Adolf Deutsch in seiner Wohnung, danach war im Heim Seegasse 16, ebenfalls im 9. Wiener Bezirk.
Am 12.Jänner 1943 wurde er nach Theresienstadt deportiert und starb dort am 22. Jänner.

Margarete Hilferding-Hönigsberg
20.6.1871 Wien
23.9.1942 Deportation Ghetto Theresienstadt, verstorben im Vernichtungslager Treblinka
WPV 1910–1911
Als Margarethe Hönigsberg kam sie 1871 in Ottakring auf die Welt, hineingeboren in ein gebildetes, wohlhabendes, aufgeklärtes Elternhaus mit großem sozialpolitischem Engagement, hineingeboren aber auch in eine Zeit, in der den Juden gerade einmal die Bürgerrechte zuerkannt wurden, die Gleichberechtigung der Frauen lag noch in weiter Ferne. So wurden erst 1897 die ersten Studentinnen an der Wiener Universität zugelassen. Margarete Hönigsberg war eine von ihnen. Nach vielen Kämpfen schließlich gelang es ihr – als erster Frau in Wien –, das medizinische Doktorat zu erwerben. Sie war in der Frauenbewegung und in der Vereinigung Sozialistischer Studentinnen aktiv, heiratete Rudolf Hilferding, ging mit ihm nach Berlin, ihre beiden Söhne wurden dort geboren. Als Ärztin konnte sie in Berlin nicht arbeiten. Schließlich ging sie mit ihren Kindern wieder nach Wien zurück und ließ sich als Ärztin im Arbeiterbezirk Favoriten nieder.
1908 schloss sie sich dem Kreis um Sigmund Freud an. Auch dort war sie die erste Frau, die Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung wurde. Die Sitzungsprotokolle zeigen, wie sehr sich selbst die so um Emanzipation und Aufklärung bemühten Psychoanalytiker damals noch schwertaten, diese Frau in ihren Reihen ernst zu nehmen. Nach dem Bruch zwischen Freud und Adler – und eigentlich gegen ihren Willen vor die Wahl gestellt – verließ sie 1911 den Kreis um Freud.
Ihre Beweggründe waren weniger wissenschaftlicher Natur, vielmehr war sie von Adlers sozialpädagogischem Wirken und vom politischen Aspekt der von ihm danach gegründeten Individualpsychologischen Schule angetan. Als überzeugte Sozialistin war sie in allen historisch wichtigen sozialpolitischen Bewegungen engagiert: als Frauenärzten, Schulärztin, Erziehungsberaterin, Psychologin, in der Volksbildung. Der Kampf für Geburtenregelung und gegen den §144 waren ihr ein besonderes Anliegen.
Nach all ihrem Einsatz für die benachteiligten Menschen und besonders für die Frauen im Roten Wien wurde sie eingesperrt, das erste Mal unter dem austrofaschistischen Regime 1934, dann neuerlich von den Nationalsozialisten 1938, die sie nach Theresienstadt deportierten. 1942 wurde sie in Treblinka ermordet.
Ihr Mann Rudolf Hilferding (Februar 1941) und ihr Sohn Karl (Juni 1942) wurden ebenfalls ermordet.
Ihr Sohn Peter Milford konnte nach Neuseeland fliehen. Heute lebt er wieder in Wien und konnte an den Ehrungen und dem Gedenken an seine Mutter teilnehmen, die anlässlich der Enthüllung einer Gedenktafel , die an einem Gemeindebau in der Leebgasse 100, Wien 10 angebracht wurde:
„Dr. Margarethe Hilferding, geb. 1871.
Absolvierte als erste Frau ein Medizinstudium in Wien,
war Ärztin und Bezirksrätin in Favoriten und
als erste Frau Mitglied der Psychoanalytischen Vereinigung.
Sie wurde 1942 in Treblinka ermordet.“

Salomea Kempner
14.2.1880 Plock, Polen
194? Ghetto Warschau
WPV: 1922–1925
Salomea Kempner wurde am 14.2.1880 in Polen, in Plock, geboren, studierte Medizin und arbeitete in der Schweiz in der Irrenanstalt Rheinau als Ärztin.
Sie wurde 1919 in der neu gegründeten Schweizer Gesellschaft für Psychoanalyse Mitglied und besuchte bis 1921 regelmäßig deren Sitzungen in Zürich. 1920 nahm sie am 6. Internationalen Kongress in Den Haag teil.
1921 trat sie aus der Schweizer Gesellschaft aus, übersiedelte nach Wien und wurde am 22.6.1922 Mitglied der Wiener Vereinigung, in der sie am 16.5.1923 den Vortrag „Der orale Sadismus“ hielt, der 1925 unter dem Titel „Beitrag zur Oralerotik“ in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ erschien. 1923 übersiedelte sie nach Berlin und arbeitete an der Berliner Poliklinik mit, wurde 1925 Mitglied der Berliner Gesellschaft. Sie nahm 1925 auch am 8. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Salzburg teil.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland durfte sie keine Sprechstunden mehr in der Poliklinik abhalten, das hatte der Unterrichtsausschuss der DPG beschossen. Ende 1935 wurde ihr der Austritt aus der DPG nahegelegt.
1936 erhielt sie die persönliche Lehrbefugnis in Psychoanalyse. Bis 1938 führte sie in ihrer Wohnung in Berlin Kontrollanalysen durch. Von 1937 bis 1941 wurde sie als „direct member“ der IPA geführt.
1941 erschien in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ die Notiz: „Kempner, Salomea, Adresse unbekannt. Sie ist im Warschauer Ghetto verschollen.“

Karl Landauer
12.10.1887 München
27.1.1945 KZ Bergen-Belsen
WPV 1913–1914
Karl Landauer wurde als Sohn einer Bankiersfamilie in München geboren. Er studierte in München und Freiburg Medizin, kam 1912 zu Freud zur Analyse und analytischen Ausbildung nach Wien und arbeitete bei Julius Wagner-Jauregg an der Universitätsklinik. Er wurde 1913 Mitglied der Vereinigung, trug zu Schizophrenie und Psychose vor, sein Interesse galt Fragen des Narzissmus und der Psychose.
Karl Landauer meldete sich freiwillig zum Militärdienst und wurde Sanitätsoffizier.
1919 ging er nach Frankfurt und ließ sich 1923 als praktizierender Analytiker nieder. Er war einer der Organisatoren der 1. Deutschen Zusammenkunft für Psychoanalyse in Würzburg, der IPV-Kongresse 1925 in Bad Homburg und 1932 in Wiesbaden, er war Gründer der Südwestdeutschen Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft 1926 und schließlich des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts, das eng mit dem Institut für Sozialforschung unter der Leitung von Max Horkheimer zusammenarbeitete.
1933 bedeutete das Aus für beide Institutionen und Karl Landauer floh zunächst nach Schweden, ließ sich dann in Amsterdam nieder und wurde Mitglied in der gerade gegründeten Niederländischen Psychoanalytischen Vereinigung. 1936 in Marienbad und 1937 auf der Vierländertagung in Budapest hielt er Vorträge.
Dem deutschen Überfall auf Holland 1940 folgten1941 die Auflösung der niederländischen Vereinigung, 1942 das Berufsverbot für jüdische Ärzte und schließlich die Verhaftung von Karl Landauer und seiner Frau, kurz darauf auch seiner drei Kinder.
Aus dem KZ Westerbork kam er zusammen mit seiner Frau und einer Tochter ins KZ Bergen-Belsen, wo er am 27. Jänner 1945 den Hungertod starb. Seine Frau und sein Tochter überlebten und emigrierten nach New York.

David Ernst Oppenheim
20.4.1881 Brünn
18.2.1943 Ghetto Theresienstadt
WPV 1910–1911
David Ernst Oppenheim wurde am 20. April 1881 in Brünn geboren, studierte Philologie und Archäologie an der Universität Wien und promovierte 1904. Er unterrichtete zuerst in Nikolsburg und dann am Akademischen Gymnasium in Wien. Besonders Geschichte und Mythologie interessierten ihn sehr und „um 1909 schickte er Freud ein Manuskript und erhielt einen interessierten Antwortbrief“.
An Jung schrieb Freud am 11.11.1909: „Der Zufall hat mir jüngst einen klugen Gymnasialprofessor zugeführt, der mit ähnlichen Gedanken, aber mit einem gefüllten Schulsack mythologisch arbeitet. Er heißt auch Oppenheim, ist recht intelligent, nur macht er mir den Eindruck, als ob er nicht recht geschickt wäre, etwas ihm bisher Fremdes anzunehmen.“
Er wurde 1910 in die WPV aufgenommen. Sein erster Vortrag war zum Thema „Das Feuer als Sexualsymbol“ und er beteiligte sich an der Selbstmorddiskussion. Sein Beitrag war „Der Selbstmord im kindlichen Alter“ – publiziert unter dem Pseudonym „Unus Multorum“.
Gemeinsam mit Sigmund Freud verfasste er 1911 „Träume im Folklore“. Im gleichen Jahr verließ Oppenheim im Gefolge des Bruchs zwischen Freud und Adler die Vereinigung, schloss sich der Gruppe um Adler an, wurde Vorstandsmitglied des neuen Vereins der Individualpsychologen, war Vorsitzender von deren geisteswissenschaftlichen Fachgruppe und publizierte in der „Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie“. Er kämpfte während des Ersten Weltkrieges an der italienischen Front, wurde Pazifist und Mitglied der Sozialdemokratischen Partei bis 1938.
„Oppenheim konnte 1938 seine Schiffspassage nach Australien auf Grund einer schweren Krankheit nicht nützen. Er wurde am 21. Oktober 1942 zusammen mit seiner Frau Amalie nach Theresienstadt deportiert und starb dort am 18. Februar 1943, seine Frau überlebte und ging 1946 nach Melbourne, wohin ihre beiden Töchter 1938 emigrierten.“

Isidor Sadger
29.10.1867 Neusandec, Galizien
20.12.1942 Ghetto Theresienstadt
WPV 1906–1933
Isidor Sadger wurde am 29.10.1867 in Neusandec (Nowy Sacz) in Galizien geboren. Er promovierte 1891 in Medizin an der Universität Wien und praktizierte zuerst als praktischer Arzt und später als Nervenarzt in Wien 9. Er spezialisierte sich auf Hydrotherapie bei nervösen Erkrankungen und war über den Sommer als Kurarzt in Gräfenberg (Schlesien) tätig. Isidor Sadger schrieb für Max Kahanes „Medizinisches Handlexikon für praktische Ärzte“ (1908) Beiträge.
Mit Freud war Isidor Sadger seit den 1890er-Jahren in Kontakt , er war Hörer seiner Vorlesungen, wurde von Freud am 14.11.1906 zur Aufnahme in die Mittwochgesellschaft vorgeschlagen und eine Woche später angenommen.
Schon früh beschäftigte er sich mit Homosexualität und Perversion, am Salzburger Kongress 1908 berichtete er von einer Psychoanalyse mit einem Homosexuellen. Weiters publizierte er einige Pathografien über Dichter in der Presse aus der Sicht der zeitgenössischen Psychiatrie, was ihm unter anderem die Kritik Freuds einbrachte. Zusammen mit seinem Neffen Fritz Wittels, den er in die Mittwochgesellschaft einführte, sprach er sich vehement gegen die Aufnahme von Frauen in die Mittwochgesellschaft aus.
Er gehörte zu den Unterstützern von Otto Fenichels „Seminar für Sexuologie“ (1919–1921), in Ambulatorium und Lehrinstitut referierte er zur „Psychopathia sexualis“. Isidor Sadger war auch Analytiker und Mentor von Hermine Hug-Hellmuth.
1933 gab er seinen Austritt aus der Vereinigung bekannt, was mit heftigen Angriffen in Zusammenhang mit seiner Freud-Biografie stehen dürfte, die er zwar drucken hatte lassen, mit deren Veröffentlichung er jedoch angeblich bis nach Freuds Tod warten wollte. Dieses Buch war lange verschollen und wurde 2006 von Andrea Hupke und Michael Schröter neu herausgegeben.
Isidor Sadger wurde am 10. September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und starb dort am 20. oder 21. Dezember 1942.

Sabina Spielrein
7.11.1885 Rostow, Russland
12.8.1942 Rostow
WPV 1911–1922
Sabina Spielrein wurde 1885 als Tochter eines vermögenden Kaufmanns in Rostow geboren. 1904 maturierte sie. Im selben Jahr brachten ihre Eltern sie nach Zürich, wo sie zehn Monate stationär von C.G. Jung in der psychiatrischen Klinik Burghölzli behandelt wurde. 1905 begann sie in Zürich ihr Medizinstudium, setzte ihre Analyse bei Jung privat fort und wurde auch seine Geliebte. C.G. Jung berichtete in seinen Briefen an Freud von dieser Behandlung. Auch Sabina Spielrein wendete sich an Freud.
1911 dissertierte sie mit „Über den psychologischen Inhaltes eines Falles von Schizophrenie“ und nahm in Zürich an den Sitzungen der psychoanalytischen Gruppe teil. 1911 brach sie ihre Beziehung zu Jung ab, ging zuerst nach München und dann nach Wien, wo sie an den Sitzungen der Vereinigung teilnahm und im Oktober Mitglied wurde. Im Winter 1911/12 trug sie im Rahmen einer Vortragsreihe ihre Arbeit über „Die Destruktion als Ursache des Werdens“ an der Universität von Rostow vor. Dort heiratete sie 1912 auch Pawel Scheftel, 1913 kam ihre Tochter Irma Renata in Berlin zur Welt.
In den nächsten Jahren lebte Sabina Spielrein in Berlin, München, Lausanne, Château-d’Oex und Genf, wo sie acht Monate die Psychoanalytikerin von Jean Piaget war. 1922 wurde sie Mitglied der Schweizerischen Psychoanalytischen Gesellschaft, 1923 kehrte sie mit ihrer Tochter nach Russland zurück und wurde Mitglied der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung und Lehranalytikerin des staatlichen Psychoanalytischen Instituts in Moskau.
Sabina Spielrein kehrte in ihre Geburtsstadt Rostow zurück, 1926 kam dort ihre zweite Tochter zur Welt. Sie lehrte an der Universität Rostow bis zum offiziellen Verbot der Psychoanalyse.
1937 schien sie zum letzten Mal in der Mitgliederliste der Russischen Vereinigung auf, sie arbeitete weiter als Pädagogin und Ärztin.
Als am 24. Juli 1942 beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion die Stadt Rostow zum zweiten Mal eingenommen wurde, mussten sich die in Rostow lebenden Juden am 11./12. August 1942 in einem Schulgebäude versammeln, sie wurden dann zur Smijowskaja Balka (Schlangenschlucht) getrieben und erschossen. Unter den Ermordeten waren auch die 57-jährige Sabina Spielrein und ihre beiden Töchter Renata, 29, und Eva, 16.

Die Gründung der Vereinigung war ein Prozess, der mit dem Beginn der Psychologischen Mittwochgesellschaft um Freud 1902 begann und mit der behördlichen Eintragung im Vereinsregister 1910 endete. Als Gründungsdatum aber wird nach einer Konvention der 15. April 1908 genommen, an diesem Tage hatte man beschlossen, erstmals als „Psychoanalytische Gesellschaft“ an die Öffentlichkeit zu treten.

Alfred Meisl war von 1903 bis 1907 Mitglied der Psychologischen Mittwochgesellschaft, formal also nicht Mitglied der Vereinigung.
Alfred Meisl
6.7.1868 Prag
29.8.1942 Ghetto Theresienstadt
WPV (Mittwochgesellschaft) 1903–1907
Alfred Meisl wurde am 6.7.1868 in Prag geboren, studierte Medizin, zuerst in Prag und dann Wien, wo er sich 1887 mit seiner Frau auch niederließ und von 1899 bis 1938 in der Gumpendorfer Straße 77 als Arzt praktizierte.
Er schloss sich 1903 der Mittwochgesellschaft an und hielt dort am 23.1.1907 einen Vortrag über „Hunger und Liebe“. Am 3.7.1907 finden wir in den Protokollen Otto Ranks den Austritt Alfred Meisls verzeichnet, der aber weiter publizierte und Kontakt zur Gesellschaft hielt.
Alfred Meisl wurde mit seiner Frau Mathilde am 21. August 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er am 29. August 1942 verstarb; seine Frau wurde am 23. Januar 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wo sie ermordet wurde.

Karl Motesiczky gehörte einer inoffiziellen psychoanalytischen Arbeitsgruppe um August Aichhorn nach 1938 an und war nie Mitglied der WPV. Vieles von dem, was wir von ihm wissen, ist Christiane Rothländer zu verdanken, die auch eine Biografie zu Karl Motesiczky verfasst hat.
Karl von Motesiczky
25.5.1904 Wien
25.6.1943 KZ Auschwitz
Karl von Motesiczky wurde am 25.5.1904 als erstes Kind von Henriette und Edmund Graf von Motesiczky in Wien geboren.
Er studierte zunächst Cello, dann Jus an der Universität Wien, später Theologie in Marburg.
1931 zog er nach Berlin, wo er Wilhelm Reich begegnete. Motesiczky wurde in Berlin Reichs Patient, Schüler und Mitarbeiter.
Reich wurde aus der KPD (später dann auch aus der DPG und der IPA) ausgeschlossen und flüchtete nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland zunächst nach Kopenhagen, dann nach Oslo, wohin ihm Motesiczky folgte. Er war Mitarbeiter und Geldgeber von Reichs „Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie“ (ZPPS), publizierte zwischen 1934 und 1938 unter verschiedenen Pseudonymen und kritisierte die Psychoanalyse als ihren eigenen revolutionären Grundsätzen untreu und verbürgerlicht. In Oslo begann er unter der Supervision Reichs Patienten zu behandeln und beteiligte sich an den ab 1935 von Reich durchgeführten bio-elektrischen Experimenten über Sexualität und Angst.
Im Winter 1937/38 kehrte Karl Motesiczky nach Österreich zurück. An seinem Wohnsitz in der Hinterbrühl fand eine große Zahl antifaschistischer und jüdischer Freunde Unterschlupf. Im Herbst 1939 beschloss er zusammen mit einigen Freunden, eine Widerstandsgruppe zu bilden. Gleichzeitig studierte Karl Motesiczky Medizin und ging zu August Aichhorn in Analyse, dem er auch vorschlug, ein psychoanalytisches Seminar abzuhalten, an dem er teilnahm.
Karl Motesiczky war es als „Mischling I. Grades“ nicht gestattet, eine psychotherapeutische Ausbildung zu absolvieren. Als ein Freund Ella Lingens von Krakau aus bat, ihn und seine Freunde in die Schweiz zu bringen, entschlossen sich das Ehepaar Lingens und Karl Motesiczky, ihnen zu helfen. Die Gruppe wurde jedoch verraten. Ella Lingens und Karl Motesiczky wurden am 16.2.1942 ins KZ Auschwitz deportiert. Karl Motesiczky starb dort am 25.6.1943 an Typhus.

Von einigen Mitgliedern der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ist das Schicksal nicht bekannt. Zu den unmittelbaren Opfern der NS-Zeit sind aber wohl auch jene AnalytikerInnen zu zählen, die auf der Flucht oder an den Folgen und Strapazen von Verfolgung, Flucht und Emigration frühzeitig verstorben sind.

Steff Bornstein (1891 Krakau) – Mitglied der WPV von 1934 bis 1938 – konnte aus Prag nicht mehr ausreisen und starb dort 1939 mit 48 Jahren an einem Herzinfarkt.

Guido Brecher (20.3.1877 Olmütz) – in der WPV von 1907 bis 1919 – verließ am 30.9.1938 Bad Gastein, wo er lange als Badearzt arbeitete. Kurz wurde gegen ihn ein Aufenthaltsverbot ausgesprochen, sein weiteres Schicksal ist unbekannt.

Otto Fenichel (2.12.1897 Wien) ging von Berlin, das er 1933 verlassen musste, zuerst nach Norwegen, dann nach Prag, 1938 nach Los Angeles, wo er 1946 mit 49 Jahren starb.

Walter Fokschaner (2.4.1892 Wien) – WPV Mitglied von 1919 bis 1928 – soll 1947 auf der Rückreise von Südamerika nach Europa (mit 55 Jahren) verstorben sein.

Gustav Grüner (31.10.1884 Neunkirchen) kam 1910 in die Vereinigung, verließ sie ein Jahr später wieder mit der Gruppe um Alfred Adler. Am 29.6.1941 starb er auf der Überfahrt von Tanger nach New York, als der spanische Dampfer torpediert wurde.

Ernst Paul Hoffmann (23.1.1891 Radautz) – Mitglied in der WPV von 1931 bis 1938 – wurde 1938 in Belgien vor seiner Flucht in die USA verhaftet und in den Lagern St. Cyprien, Gurs, Les Milles interniert. 1942 war er wieder frei. Er ging zunächst nach Marseille und später in die Schweiz, wo er 1944 – 53 Jahre alt – an den Folgen einer Magenoperation verstarb.

Richard Nepallek (1864 Wien) – Mitglied der WPV von 1910 bis 1938 – war als Einziger unter den gewaltsam zu Tode gekommenen aus dieser Zeit nicht jüdischer Herkunft. Er starb 1940 in seiner Wohnung in Wien an einer Leuchtgasvergiftung – es wird Selbstmord vermutet.

Wilhelm Stekel (1868 Bojan, Bukowina) – Gründungsmitglied der Mittwochgesellschaft und Mitglied der WPV bis 1912 – setzte 1940, im Besitz nur eines Touristenvisums für die USA, in einem Hotelzimmer in London seinem Leben ein Ende.

Adolf Storfer (1888 Botoschan, Bukowina) konnte sich vorerst nach Shanghai retten, flüchtete 1941 von dort vor den japanischen Truppen nach Australien und starb als Hilfsarbeiter in Melbourne am 2.12.1944 mit 56 Jahren.

29. November 2008,
Christine Diercks, Vorsitzende der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung