Sigmund Freud - Aus seinen Briefen 1933-1938

Freud vor dem Hotel Esplanade in London
Sigmund Freud nach seiner Ankunft am 6. Juni 1938 im Exil in London vor dem Hotel Esplanade

„Meine Sprache ist deutsch. Meine Kultur, meine Bildung sind deutsch.
Ich betrachtete mich geistig als Deutschen,

bis ich die Zunahme des antisemitischen Vorurteils
in Deutschland und Deutschösterreich bemerkte.
Seit dieser Zeit ziehe ich es vor,
mich einen Juden zu nennen.“

(Sigmund Freud, Interview 1926)

In Deutschland wurden die jüdischen Analytiker seit 1933 wegen ihrer Herkunft verfolgt.
Schon der seit 1934 in Österreich herrschende Austrofaschismus trieb viele in die Emigrationen und veranlasste die in Wien Ausharrenden zum Stillhalten.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1938 bedeutete das Ende für die Psychoanalyse in Wien und zwang die jüdischen PsychoanalytikerInnen, das Land zu verlassen und alles hier aufzugeben, um ihr Leben zu retten.

Am 26. März 1933 schreibt Freud an Marie Bonaparte:
„Man darf nicht übersehen, daß Judenverfolgung und Einschränkung der geistigen Freiheit die einzigen Punkte des Hitler-Programms sind, die sich durchführen lassen. Alles übrige ist ja Phrase und Utopie.“
Wenige Wochen später wieder an die Prinzessin: „Die Welt wird ein großes Zuchthaus, die ärgste Zelle ist Deutschland… In Deutschland sehe ich eine paradoxe Überraschung voraus. Sie haben dort mit der Todfeindschaft gegen den Bolschewismus begonnen und werden mit etwas enden, was von ihm nicht zu unterscheiden ist. Außer vielleicht darin, daß der Bolschewismus doch revolutionäre Ideale aufgenommen hat, der Hitlerismus nur mittelalterlich-reaktionäre.“

Am 26. März 1933 schreibt Sandor Ferenczi an Sigmund Freud angesichts der Ereignisse in Deutschland und der Erfahrungen von Max Eitingon über „die Maßnahmen, die man in solcher Not ergreifen müßte“: „Kurz und gut: Ich rate Ihnen, die Zeit der noch nicht unmittelbar gefahrdrohenden Lage zu benützen und mit einigen Patienten und Ihrer Tochter Anna in ein sicheres Land, etwa England zu reisen.“
Freud antwortet ihm am 2. April 1933
„Was nun das aktuelle Motiv Ihres Schreibens betrifft, das Fluchtmotiv, so will ich ihnen gern ankündigen, daß ich Wien nicht zu verlassen gedenke. Ich bin zu wenig beweglich, zu sehr abhängig von Behandlungen, kleinen Linderungen und Bequemlichkeiten, mag auch meinen Besitz nicht im Stich lassen, aber wahrscheinlich würde ich auch bleiben, wenn ich intakt und jugendfrisch wäre. […] Es ist nicht sicher, daß das Hitlerregime auch Österreich überwältigen wird; möglich ist es freilich, aber alle glauben, daß es hier nicht die Höhe der Brutalität erreichen wird wie in Deutschland. Persönliche Gefahr für mich besteht wohl nicht, und wenn Sie das Leben in der Bedrückung für uns Juden als reichlich unbequem vermuten, so vergessen Sie doch nicht daran, wie wenig Behaglichkeit das Leben in der Fremde, sei es Schweiz oder England, den Flüchtlingen verspricht. Flucht, meine ich, wäre nur durch direkte Lebensgefahr gerechtfertigt, und übrigens, wenn sie einen erschlagen, ist es für den eine Todesart wie eine andere.“

Arnold Zweigs letzter Brief vom 15. Dezember 1933 aus Europa vor seiner Emigration nach Palästine gelten Sigmund Freud.
„Lieber Vater Freud, mieine Letzten Zeilen in Europa gelten Ihnen. Ich habe eine ungewöhnliche Anspannung hinter mir, und mein Mscrpt. doch noch nicht ganz druckfertig hinterlassen müssen. […]
Ab. 1. Jan. in Haifa: Mont Carmel, Pension Wollstein.“
(Freud wird seinerseits an Arnold Zweig am 4. Juni 1938 letztes „Affect. Greetings“ aus Wien auf seinem Weg ins Exil schicken und ihm seine neue Adresse in London mitteilen.)

Freud am 20. Frebruar 1934 an seinen Sohn Ernst Freud nach dem Februaraufstand 1934:
„Entweder ein österreichischer Faschismus oder das Hakenkreuz. Im letzteren Falle müssen wir weg.“

Am 25.Februar 1934 schreibt Freud an Arnold Zweig
„Sie erwarten richtig, daß wir in Ergebung hier ausharren wollen. Wohin sollte ich auch in meiner Abhängigkeit und körperlichen Hilflosigkeit? Und die Fremde ist überall so ungastlich. Nur, wenn wirklich ein Hitlerscher Statthalter in Wien regiert, muß ich wohl fortziehen, gleichgültig wohin.“

Freud an Arnold Zweig am 15.7.1934
„Die Ereignisse aus Deutschland erinnern mich auf dem Weg des Kontrastes an ein Erlebnis aus dem Sommer 1920. Es war der erste Kongreß außerhalb unseres Kerkers im Haag. Wie liebenswürdig unsere holländischen Kollegen gegen die verhungerten und verluderten Mitteleuropäer waren, tut heute noch wohl zu erinnern. Am Ende des Kongresses gaben sie uns ein Diner von echt holländischer Üppgikeit, für das wir nichts zahlen durften, aber wir hatten es auch verlernt zu essen. Als die Hor d’oeuvres gereicht wurden, schmekckten sie uns allen, und dann waren wir fertig, mehr konnten wir nicht nehmen. Und nun der Gegensatz! Nach den ANchrichten vom 30. Juni haate ich nur die eine Empfindung: was, nach der Vorspeise soll ich vom Tisch aufstehen! und dann kommt nichts nach! Ich bin noch hungrig.“

Freud an Arnold Zweig am 21. Februar 1936
„Die Aussicht, nach einigen Jahren Deutschland wieder zugänglich zu finden, ist wirklich vorhanden. Manchmal erwarte ich, dergleichen noch selbst zu erleben, wobei ich nicht auf die Verlängerung meines Lebens, sondern auf die Verkürzung der Naziherrschaft hoffe. Freilich, auch nach den Nazis wird Deutschland nicht mehr das Frühere sein, nicht mehr Eichkamp sozusagen. Aber man wird an den Aufräumungsarbeiten teilnehmen dürfen.“

Freud an Arnold Zweig am 22.6.1936
„Österreichs Weg zum National-Sozialismus scheint unaufhaltsam. Alle Schicksale haben sich mit dem Gesindel verschworen. Mit immer weniger Bedauern warte ich darauf, daß für mich der Vorhang fällt.“

Freud Ende 1937 an Arnold Zweig:
„In Ihrem Interesse kann ich es kaum bedauern, daß Sie nicht Wien zur neuen Heimat gewählt haben. Die Regierung hier ist eine andere, aber das Volk ist dasselbe, in der Anbetung des Antisemitismus durchaus einig mit den Brüdern im Reich. Die Kehle wird uns immer enger zugeschnürt, wenn wir auch nicht erwürgt werden.“

Freud an seinen Sohn Ernst Freud
Wien IX, Berggasse 19, 12. Mai 1938
Lieber Ernst
Ich schreibe Dir ohne äußeren Anlaß, weil ich hier ohnmächtig und untätig sitze, während Anna alle Wege macht, mit allen Ämtern verkehrt, alle Geschäfte erledigt. Man kann die »Reise schon sehen«. Wir warten nur noch auf die ›Unbedenklichkeitserklärung‹ der Steuer, die innerhalb einer Woche kommen soll…
Zwei Aussichten erhalten sich in diesen trüben Zeiten, Euch alle beisammen zu sehen und – ›to die in freedom‹. Ich vergleiche mich manchmal mit dem alten Jakob, den seine Kinder auch im hohen Alter nach Ägypten mitgenommen haben, wie uns Th. Mann im nächsten Roman schildern wird. Hoffentlich folgt nicht darauf wie dereinst ein Auszug aus Ägypten. Es ist Zeit, daß Ahasver irgendwo zur Ruhe kommt.
Wie weit es uns alten Leuten gelingen wird, mit den Schwierigkeiten der neuen Heimat fertig zu werden, steht dahin. Du wirst uns dabei helfen. Es kommt alles gegen die Befreiung nicht in Betracht. Anna wird es gewiß leicht zustande bringen, und das ist das Entscheidende, denn für uns zwischen dreiundsiebzig und zweiundachtzig hätte die ganze Unternehmung keinen Sinn gehabt.
Wenn ich als reicher Mann käme, würde ich mir mit Hilfe Deines Schwagers eine neue Sammlung schaffen. So aber werde ich mich mit den zwei kleinen Stücken begnügen müssen, die die Prinzessin bei ihrem ersten Besuch entführt hat, und jenen Dingen, die sie bei ihrer letzten Anwesenheit in Athen für mich gekauft hat und jetzt in Paris aufbewahrt. Was ich von meiner eigenen Sammlung nachgeschickt haben kann, ist ja ganz unsicher. Es erinnert zwar an die Rettung des Vogelkäfigs bei der Feuersbrunst.
So könnte ich noch Stunden lang weiter schreiben, aber Du wirst zu beschäftigt sein, um es zu lesen. Darum nur herzliche Grüße für Dich, Lux und alle Jungen von
Papa

Freud an Ernest Jones
Wien IX, Berggasse 19, 13. Mai 1938
Dear Jones
Anna sagt mir, sie schließt aus Ihrem letzten Brief, daß Sie eine Antwort auf Ihren Brief zum Geburtstag erwartet haben, und darum schreibe ich Ihnen, aber auch weil ich absolut untätig und sonst unbrauchbar hier in meinem Arbeitszimmer sitze. Wir hatten beschlossen, daß dieser Geburtstag nicht gelten soll, daß er auf den 6. Juni, Juli, August und so weiter, kurz auf ein Datum nach unserer Befreiung verschoben wird, und ich habe in der Tat keine der eingetroffenen Zuschriften, Telegramme und dergleichen beantwortet. Nun scheint es doch, daß wir noch im Monat Mai in England landen werden. Ich sage, es scheint, denn trotz aller Zusagen ist die Unsicherheit das alles beherrschende Moment. Prinzessin Marie in ihrer rührenden Anhänglichkeit hatte vorgestern telephoniert, sie wolle am Montag (also am 16.Mai) nach Wien kommen, um uns über die Grenze bis nach Paris zu begleiten; wir haben sie gestern bitten müssen, ihre Erwartungen zu ermäßigen, da wir den Tag der Ausreise noch nicht bestimmen können.
Ein anderes Motiv, Ihnen nicht zu antworten, fand sich in der allgemeinen Schreibhemmung dieser Zeit. Sie erinnern sich vielleicht, ich habe einmal den sogenannten »physiologischen Schwachsinn des Weibes« (Möbius) auf das den Frauen auferlegte Verbot zurückgeführt, ihre Gedanken mit dem Sexuellen zu beschäftigen. Damit hatte man ihnen das Denken überhaupt verleidet. Wie muß eine solche Einschränkung auf mich wirken, der immer gewohnt war, dem Ausdruck zu geben, woran er glaubte. Aber wie sehr mich Ihr herzlicher Brief erfreut hat, wäre der erste Satz gewesen, den Sie in Victoria Station von mir gehört hätten.
Gern wäre ich in besserem Zustand nach England gekommen. Ich reise zwar mit einem Leibarzt, aber ich habe Bedürfnis nach mehreren Ärzten und bald nach meiner Ankunft werde ich einen Ohrenarzt ausfindig machen und den Kieferarzt aufsuchen müssen, dessen Namen mir Pichler angegeben hat. Manchmal sagt man sich auch »Le jeu ne vaut pas la chandelle«, und obwohl man damit recht hat, darf man sich nicht recht geben. Der Vorteil, den die Übersiedlung Anna bringen wird, ist all unsere kleinen Opfer wert. Für uns alte Leute (dreiundsiebzig – siebenundsiebzig – zweiundachtzig) hätte die Übersiedlung nicht gelohnt.
Anna ist unermüdlich tätig, nicht nur für uns, auch für unbegrenzt viele andere. Ich hoffe, sie wird in England auch viel für die Analyse tun können, aber sie wird sich nicht aufdrängen.
Vielleicht doch auf baldiges Wiedersehen!
Herzlich
Ihr Freud

Freud schickt nun seinerseits an Arnold Zweig am Tag seiner Emigration letzte Grüße aus Wien:
Wien, 4. 6. 1938
Leaving today for 39, Elsworthy Road, London N. W. 3.
Affect. Greetings.
Freud

Am 6. Juni schreibt Sigmund Freud an Max Eitingon - schon aus London:
39, Elsworthy Road, London, N.W.3, 6.Juni 1938
Lieber Freund
Ich habe Ihnen in den letzten Wochen wenig Nachrichten gegeben. Dafür schreibe ich Ihnen heute den ersten Brief aus dem neuen Hause, noch ehe ich neues Briefpapier bekommen habe. Es ist noch alles traumhaft unwirklich. Es könnte ein herrlicher Wunschtraum sein, wenn wir nicht Minna schwer krank, hoch fiebernd hier angetroffen hätten. Der Ausgang ist noch immer unsicher. Sie wissen, wir sind nicht alle gleichzeitig ausgereist. Dorothy die erste, Minna am 5. Mai, Martin am 14. Mai, Math und Robert am 24. Mai, wir übrigen erst Samstag vor Pfingsten, also 3. Juni, Paula mit uns, Lün wenigstens bis Dover, wo sie von einem freundlichen Veterinär in Quarantäne genommen wurde. Mein Hausarzt Dr. Schur sollte uns mit seiner Familie begleiten, aber er war so ungeschickt, in elfter Stunde einer Blinddarmoperation bedürftig zu werden, so daß wir uns mit der Garantie der netten Kinderärztin Dr. Stroß, die Anna mitnimmt, begnügen mußten. Sie hat mich sehr behütet, denn in der Tat haben die Schwierigkeiten der Reise sich bei mir in schmerzhafter Herzmüdigkeit ausgewirkt, wogegen ich reichlich Nitroglycerin und Strychnin genossen habe. Die lästige Revision in Kehl wurde uns durch ein Wunder erspart. Nach der Rheinbrücke waren wir frei! Der Empfang in Paris – Gare de l’Est – war herzlich, etwas lärmend mit Journalisten und Photographen. Von zehn a. m. bis zehn p. m. waren wir bei Marie im Hause. Sie hat sich an Zärtlichkeit und Rücksichten übertroffen, hat uns einen Teil unseres Vermögens zurückgegeben, und mich nicht ohne neue griechische Terrakotten weiter reisen lassen. Den Kanal überquerten wir im Ferry-boat, das Meer sahen wir erst im Hafen von Dover. Nun waren wir bald in Victoria Station und wurden von den Immigration-Officers mit Auszeichnung durchgelassen. Unsere Aufnahme in London ist eine sehr liebenswürdige. Die ernsthaften Zeitungen bringen kurze freundliche Begrüßungen. Allerlei Getue wird gewiß noch folgen.
Um zurückzugreifen, Ernst und mein Neffe Harr waren schon in Paris, uns zu empfangen. In Victoria war Jones anwesend, der uns dann durch das schöne London in unser neues Haus brachte, 39 Elsworthy Road. Wenn Sie London kennen, es ist ganz im Norden der Stadt, nach dem Ende von Regent’s Park am Fuß von Primrose Hill, hat von meinem Fenster aus kein Gegenüber, sondern nur die Aussicht ins Grüne, das mit einem reizenden kleinen von Bäumen umschlossenen Garten anfängt. Es ist also so, als ob wir in Grinzing lebten, wo jetzt der Gauleiter Bürckel uns gegenüber eingezogen ist. Das Haus ist vornehm eingerichtet. Die oberen Räume, die ich ohne Tragsessel nicht betreten kann, sollen besonders schön sein, parterre ist uns – Martha und mir – Schlafzimmer, Arbeitszimmer und Speisezimmer eingerichtet worden, immer noch schön und bequem genug. Natürlich ist Ernst für Wahl und Einrichtung der Wohnung verantwortlich, aber wir können nicht länger als einige Monate in ihr bleiben und müssen für die Zeit, bis unsere eigenen Möbel kommen – vielleicht in einigen Monaten –, ein anderes leeres Haus mieten.
Es wird kaum Zufall sein, daß ich bisher so sachlich geblieben bin. Die Affektlage dieser Tage ist schwer zu fassen, kaum zu beschreiben. Das Triumphgefühl der Befreiung vermengt sich zu stark mit der Trauer, denn man hat das Gefängnis, aus dem man entlassen wurde, immer noch sehr geliebt, in das Entzücken über die neue Umgebung, das einen zum Ausruf: Heil Hitler drängen möchte, mengt sich störend das Unbehagen über kleine Eigentümlichkeiten der fremden Umwelt ein, die frohen Erwartungen eines neuen Lebens werden durch die Unsicherheit gehemmt, wie lange ein müdes Herz noch Arbeit wird leisten wollen, unter dem Eindruck der Krankheit im Stock über mir – ich habe sie noch nicht sehen dürfen – wechselt der Herzschmerz ab mit deutlicher Depression. Aber Kinder, die echten sowohl wie die angenommenen, benehmen sich reizend. Math zeigt sich hier so tüchtig wie Anna in Wien, Ernst ist wirklich wie man ihn genannt hat, a tower of strength, Lux und die Kinder seiner würdig, die Männer Martin und Robert tragen den Kopf wieder hoch. Soll ich der einzige sein, der nicht mitgeht, der die Seinigen enttäuscht? Und meine Frau ist gesund und siegreich geblieben.
Wir sind mit einem Schlag populär in London geworden. Der Bankmanager sagt: »I know all about you«; der Chauffeur, der Anna führt, bemerkt: »Oh, it’s Dr. Freud’s place.« Wir ersticken in Blumen. Jetzt dürfen Sie auch wieder schreiben, und zwar was Sie wollen. Briefe werden nicht geöffnet.
Herzlich für Sie und Mirra
Ihr Freud

Sigmund Freud an seinen Bruder Alexander Freud
39, Elsworthy Road, London, N.W.3, 22. Juni 1938
Lieber Alex
Eigentlich spüre ich eine starke Abhaltung, Deinen Brief zu beantworten. Du wirst gleich hören, warum. Es geht uns nämlich sehr gut, zu gut möchte ich sagen, wenn nicht ein gekränktes Herz und eine gereizte Blase an die Vergänglichkeit menschlicher Seligkeit mahnen würden. Dieses England – Du wirst es ja bald selbst erfahren – ist trotz allem, was hier fremd, sonderbar und beschwerlich ist – und es ist nicht wenig – ein gesegnetes, ein glückliches Land, von wohlwollenden gastfreundlichen Menschen bewohnt, das ist wenigstens der Eindruck der ersten Wochen. Unsere Aufnahme war über die Maßen liebenswürdig. Eine Massenpsychose hat uns auf ihren Schwingen emporgetragen. (Ich muß mich poetisch ausdrücken.) Vom dritten Tag an hat die Post Briefe mit der Adresse: Dr. Freud, London, oder ›Overlooking Regent’s Park‹ richtig befördert, hat ein Taximann, der Anna nach Haus gebracht, beim Anblick der Hausnummer ausgerufen: »Oh, it’s Dr. Freud’s place.« Die Zeitungen hatten uns populär gemacht. Wir erstickten in Blumen und hätten uns leicht an Süßigkeiten und Früchten gründlich verderben können. Und die Briefe – ich habe zwei Wochen lang wie ein Schreibkuli gearbeitet, um die Spreu vom Weizen zu sondern und – verzeih die Entgleisung – letzteren zu beantworten. Zuschriften von Freunden, überraschend viele von völlig Fremden, die nur ihre Freude ausdrücken wollen, daß wir entkommen und jetzt in Sicherheit sind, und nichts dafür verlangen. Außerdem natürlich die Schar von Autographenjägern, Narren, Verrückten und Frommen, die Traktate und Evangelien schicken, das Seelenheil retten, die Wege Christi weisen und über die Zukunft Israels aufklären wollen. Und dann erst die gelehrten Gesellschaften, deren Mitglied ich schon bin, und die unendlich vielen jüdischen ›associations‹, deren Ehrenmitglied ich werden soll. Kurz, zum ersten Mal und spät im Leben habe ich erfahren, was Berühmtsein heißt.
Jetzt bleibt mir nur kurz zu berichten, daß Minna, die offenbar dieselbe Bronchopneumonie gehabt hat wie kürzlich Du, sich zu erholen beginnt, daß Robert und Mathilde sehr brav wirtschaften, daß Martha wirklich ihr Leben genießt, und Anna wieder arbeitet wie immer, für sich und andere. Harry sehen wir oft. Euch beide fordere ich nur auf zu warten, bis Ihr auch das Schweizer Exil verlassen könnt; die Aussichten, die Dir die Nazi eröffnen, sind ja überraschend günstig. Soll man das dem Gesindel zutrauen? Gibt es bei ihnen noch einen Rest von Gefühl für Billigkeit und Recht? Laß es mich gleich wissen, sobald Du daran glauben darfst.
Herzlich Euch beiden
Dein Sigm.

Sigmund Freud an Dr. Alfred Indra
39, Elsworthy Road, London, N.W.3,
20. Juli 1938
Sehr geehrter Herr Doktor
Ihre Mitteilung, daß die Devisenstelle das Angebot der in Zürich liegenden Hollandgulden verlangt, war für mich eine peinliche Überraschung. Ich habe dazu folgendes zu bemerken:
Sie waren selbst Zeuge der Verhandlung, in der der Vertreter der Gestapo mir die Versicherung gab, daß dieser Posten uns erhalten bleiben würde und erinnern sich gewiß an die rücksichtsvoll klingende Motivierung. Es sollte geschehen, damit wir die Mittel hätten, im fremden Land eine neue Existenz zu begründen, für welche die Erlaubnis, in England ungehindert Analyse zu praktizieren, allerdings die Möglichkeit bietet. Nun ist ein Fall denkbar, in dem die Verfügung über diesen Betrag von Devisen zur Lebensnotwendigkeit für uns wird.
Wir sind am 5. Juni, also vor mehr als sieben Wochen ausgereist, erwarten seitdem die Nachsendung unseres Hausrats, meiner Bücher und der kleinen Sammlung von Antiquitäten, die gegen eine bereits entrichtete Abgabe freigegeben wurde. Nichts davon ist uns bisher nachgekommen. Wenn dieses Übersiedlungsgut überhaupt zurückgehalten wird, so bleibt mir gar nichts anderes übrig, als diese Hollandgulden zum Ankauf von neuen Möbeln, Wäsche, Einrichtungsgegenständen, Büchern zu verwenden, unbekümmert um die in Ihrem Brief angedeuteten Konsequenzen, denn wir können nicht lange in einer möblierten Mietswohnung, die unverhältnismäßig teuer ist, aushalten.
Sobald sich unsere Wiener Habe in unseren Händen befindet, sind Sie, Herr Doktor, durch mich ermächtigt, die Hollandgulden der Devisenstelle zum Ankauf anzubieten. Es ist zwar ein schweres Opfer für mich. Man hätte denken sollen, daß eine amtliche Zusage, wie sie uns gegeben wurde, eingehalten wird. Der Kommissär Dr. Sauerwald schreibt uns heute, daß er einen Weg versuchen wird, die Hollandgulden durch ein anderes Angebot zu ersetzen. Ich bin damit völlig einverstanden.
Wenn die Hollandgulden wirklich verkauft werden müßten, so wird der Betrag dafür doch auf ein Sperrkonto zu unseren Gunsten gelegt werden. Könnten Sie es nicht durchsetzen, Herr Doktor, daß er dann auf das Konto unserer Prinzessin Marie von Griechenland übertragen wird, die die Reichsfluchtsteuer für uns erlegt hat? Auf diese Art könnten wir die eine unserer Schulden begleichen.
In betreff des zweiten in Ihrem Brief berührten Punktes, die Schulden auswärtiger Verleger an mich als Autor, habe ich zu sagen, daß dieser Posten immer der unsicherste und variabelste meiner Einkünfte war. Gegenwärtig habe ich solche Ausstände überhaupt nicht, die fremden Verleger sind mir im Moment nichts schuldig. Erst mit Jahresende können sich solche Verschuldungen wieder ergeben haben. Welches diese fremden Verleger sind, kann ich aus dem Gedächtnis nicht angeben. Ich (und ebenso mein Sohn, der Verlagsdirektor) konnte ja keine Verrechnungen mit hinausbringen, und ich habe auch nicht eine meiner Übersetzungen hier, aus denen ich die Namen der Verleger ersehen könnte. Um größere Beträge wird es sich auch am Jahresende nicht handeln infolge des allgemeinen Niederganges des Absatzes in allen Ländern.
Mit vielem Dank für Ihre Bemühungen in unserer Sache
Ihr sehr ergebener
Prof. Freud

Sigmund Freud an Margaret Stonborough-Wittgenstein am 5. November 1938:
„Wenn Sie mich also wieder hier besuchen, finden Sie mich in einem anderen Haus so schön und geräumig, daß es den unkundigen über meine Verhältnisse irreführen könnte (…). Alle unsere Sachen sind unversehrt angekommen. Die Stück meiner Sammlung haben mehr Platz und machen mehr Eindruck als in Wien. Freilich ist die Sammlung jetzt todt, es kommt nichts mehr dazu, und fast ebenso todt ist der Eigentümer, von dem unlängst wider en Stück weggekommen ist (…). Kann noch nicht ordentlich sprechen, essen und rauchen und die unausgesetzten Schmerzen machen einen müde, dumm und boshaft. Mit neuen Arbeiten geht es darum auch nicht. Der ‚Moses’ ist nach mehreren Ländern verkauft und wartet dort auf Übersetzung.“

Sigmund Freud an Marie Bonaparte
20, Maresfield Gardens, London, N.W.3,
12. November 1938
Meine liebe Marie
[…]
Die letzten abscheulichen Ereignisse in Deutschland verschärfen das Problem, was mit den vier alten Frauen zwischen fünfundsiebzig und achtzig geschehen soll. Es geht über unsere Kräfte, sie in England zu erhalten. Das Vermögen, das wir ihnen beim Abschied hinterlassen, gegen hundertsechzigtausend österreichische Schilling, ist vielleicht schon jetzt konfisziert, geht sicherlich verloren, wenn sie weggehen. Wir denken an einen Aufenthalt an der französischen Riviera, Nizza oder in der Nähe. Aber wird das möglich sein?
Ich bin noch ganz leistungsunfähig. Briefe kann ich schreiben, aber nichts anderes. Anna hat drei öffentliche Vorträge gehalten, die auch in der Sprache sehr gelobt worden sind.
Mit herzlichstem Gruß
Ihr Freud

Quellen

Sigmund Freud (1968a [1927-1939]): Briefe an Arnold Zweig. In: Sigmund Freud / Arnold Zweig, Briefwechsel. Hg. von Ernst L. Freud. Frankfurt am Main: S. Fischer
Freud, Ernst und Lucie (Hrsg.) (1960a [1873-1939]): Sigmund Freud, Briefe 1873-1939. Frankfurt am Main: S. Fischer
Sigmund Freud: Briefe in chronologisher Ordnung. Transkript Ernst Falzder (unveröffentlicht)

Redaktion CD, 27.5.2013